Kunst ohne Genies?
Eine Skizze von Hans Greimer
Evolution des Geniebegriffs
Künstler im Mittelalter
Die Kunst steht unter der Obhut und Kontrolle eines allgemein gültigen Glaubensgebäudes das die gesamt Wirklichkeit ordnet und deutet. Relative Homogenität der Weltbilder. Kunst als Dienerin der Religion, geringer Individualisierungsgrad der Künstler.
Schichtmodell der Gesellschaft:
Schichtaufbau in den Städten: Patrizier (Adelige und geistliche Stadtherren, Rentenadel, Fernhandelskaufleute); Bürger (Handwerker, Krämer, Ackerbürger, Beamte); unterständische Gruppen: unehrliche Berufe, niedere Bedienstete, sozial Deklassierte). Ökonomische Träger der Kunst: Patrizier und Bürger mit entsprechenden Abhängigkeiten der Künstler.
Geniebegriff der Renaissance
Aus dem Status des Handwerkers stieg der Künstler zum divina artista auf, der durch die Einsicht in die göttlichen Ideen (Wiederbelebung der griechischen Antike und darin des Neuplatonismus) eine privilegierte Stellung einzunehmen beginnt. Bis an den Beginn der Moderne werden in der bildenden Kunst Paradigmen der Renaissance in mehreren Schüben immer wieder modifiziert und variiert umgewälzt.
Im Schichtaufbau erfolgen Differenzierung des mittelalterlichen. Auch hier bleiben Oberschicht-Adel und Geistlichkeit sowie Bürger ökonomische Träger der Kunst mit entsprechenden Abhängigkeiten der Künstler.
Die seit der Renaissance gegenüber der Funktion des Künstlers im Mittelalter zunehmende Autonomisierung des Künstlergenies wird weiter geführt. Nach Diderot hat das Genie das Recht zur Immoralität, zur Asozialität, zur Wildheit, es hat also das Recht auf Verfehlungen, nicht nur im bürgerlichen Leben und im Kontrast zu demselben. Für sein Werk sind Eigenschaften wie wahr und falsch keine Kriterien. Sein Merkmal ist allein der Grad und die Kraft seiner Phantasie.
Schichtaufbau im Übergang von Ständegesellschaft in moderne Schichten- (Klassen-) Gesellschaft. Revolution des Bürgertums gegen alte Oberschichten.
Gilt sowohl als Ergänzung wie auch als Kontrast zur rationalistisch betonten Aufklärung. Weiterhin Auflehnung gegen autoritäre Herrschaftsformen der Oberschichten. Gegen Vernunft und Zweckmäßigkeit wird Naturmystik und Empfindung gesetzt. Forderung höherer Individualität im Sinne von politischer, persönlicher und künstlerischer Freiheit.
Subjektivität wird explizit in die Ästhetik aufgenommen. Der Begriff der Kunstreligion (als Ersatzmetaphysik) wirkt bis in die Moderne fort (Theologisierung des schöpferischen Prozesses). Es entsteht die Vorstellung vom Künstler als Propheten und Gottgesandten mit messianischer Funktion und einer damit verbundenen Leidensideologie an den Zuständen der realen Welt.
Für den Übergang in die Moderne spielen Aspekte von Nietzsches Kunstkonzepten eine bedeutende Rolle. In den Vorstellungen
* einer radikalen Kritik der europäisch-christlichen Kultur durch Extremisierung des bereits vor ihm erarbeiteten kritischen Realismus oder Varianten des transzendentalen Idealismus hin zum epistemischen Nihilismus,
* einer Natur-, Leib- und Diesseitsbetonung (dionysische, leibgewordene [nihilistische] Menschenvernunft contra Logos als Weltvernunft und Nus der Menschenvernunft)
* sowie der Entwicklung eines neuen Menschentypen als einem reaktiven Gegenkonzept gegen die Zunahme sozialer Differenzierung, die Bildung neuer Schichten (Sozialismustheorien) und erhöhtem Individualismus (mit Lösung aus den bisherigen religiösen Bindungen mit Übergang in nihilistische Vernunft und dem von Gleichheit durchdrungenen 'letzten Menschen')
spielt sein Kunstbegriff gepaart mit politischen, religiösen und kulturellen Parametern eine wichtige Rolle. Trotz des Versuches anderer Lesarten, zu der Nietzsches Ambivalenzen Anlass und Möglichkeit bieten, ergeben sich unzweideutig folgende, nicht eliminierbare Aspekte:
1.Die überpolitische Einheit von Macht- und Zweckstaat, welche die Züge platonistischer Politästhetik, sakralisierter Politik und die Einheit von Staatsmann und Künstler enthält. Herrschaft der wenigen Individuen der leibgewordenen Vernunft über die Vielheit von Menschen im Zustand nihilistischen Sinnverlustes der alteuropäischen Vernunft.
2. Die Theorie der Bedrohung durch einen egalitären Totalitarismus, dem zuvorzukommen sei.
3. Die Aufhebung der Gattungsemanzipation des Menschen in einer über die Aufklärung aufgeklärten Aufklärung als politischer Kastenordnung.
4. Die Sprengung der nationalen Grenzen für eine neue politische Kasten- und Rangordnung durch Züchtung einer gesamteuropäischen oder globalen Herrenkaste, mit Vorstellung der Vernichtung von Massen, Entartetem und Parasitischem sowie Rassen.
Geniebegriffe der Moderne
Moderne Gesellschaften sind durch hochgradige Differenzierungen gekennzeichnet. Die 4 Ebenen [1)Wirtschaft, 2)Politik, 3)Kultur (Kunst-Wissenschaft) Religion und 4)Sprache und Kommunikation] werden zunehmend in inhaltlich verschiedene Untersysteme ausdifferenziert und bilden die Grundlage für eine von den früheren Ständesystemen abgelöste neue Schichten - (Klassen-) Gesellschaft nach folgendem Modell:
6. Schichte: große Selbständige, höhere Angestellte
und Beamte, freiberufliche Akademiker
5. Schichte: kleine Selbständige, Bauern inbegriffen
4. Schichte: mittlere Angestellte und Beamte
3. Schichte: niedere Angestellte und Beamte
2. Schichte: Facharbeiter
1. Schichte: Hilfsarbeiter und angelernte Arbeiter
Die Kunst als ein Untersystem der Kultur hat sich selbst seit der Moderne in eine Vielzahl von Richtungen und Ismen ausgestaltet, die alle, als eine Palette in mehren Schüben modifiziert und variiert, immer wieder neu aufgegossen wurden und werden. Die komplexe Vielfalt der Ismen provoziert die Theorie der Postmoderne, die das beliebige Nebeneinander der Vielfalt gegen jede essentialisierende Vereinheitlichung legitimiert. Postmoderne als Strategie der Komplexitätsbewältigung. Die Mängel der postmodernen Theorien werden im Aufsatz Hans Greimers: "Was kann nach der Postmoderne kommen" behandelt.
Alle drei Typen sind Weiterführungen bereits in den früheren Phasen angelegter Entwicklungsstränge, die extremisiert werden:
Der Künstler in dieser Gesellschaftsformation ist ein extrem autonomer Subjektivist, sowohl hinsichtlich seiner Ich-Theorie als auch im vermittelten Inhalt und in seinem Stil und Ausdruck (kompromisslose Subjektivität). Unverwechselbare Einmaligkeit als Markenzeichen in der ökonomisierten Kunstszene mit hypertrophen Kunstmärkten ist Voraussetzung für Erfolg. Die künstlerische narzistische Selbstdar-(aus-)stellung als Extremfall der (körperlichen) Selbstinszenierung und der Wille ", so zu sein wie kein anderer" sind Ergebnisse des Trends. Eine Inflation der Kunstschaffenden führt dazu, dass es mehr Genies gibt, als Publikum zur Verfügung steht. Der Skandal und die Provokation werden zur Marktstrategie. Ökonomische Träger der Kunst sind Staat, Wirtschaft über Sponsoring und ein mit dem Gesamtmarkt verbundener selbständiger Kunstmarkt.
b) Der "Cäsorao-Paptist"
Die Zurückdrängung der Religion als Weltbildorganisatorin und Sinnstifterin führt – in Fortsetzung von Thesen in den vorherigen Epochen - zu Künstlerpersönlichkeiten, die selbst Privatreligionen (Kunstreligionen) inszenieren. Der Künstler als Hoher Priester, Demiurg der Weltbilder, Vermittler des Inhalts. Im Kampf gegen das Christentum kommt es zu regressivem Ritus mittels Anreicherung mit heidnischer Archaik (z.B. bei bei Nitsch); im Kampf gegen den Staat zur Errichtung eines autoritären Privatstaates in Form eines Clans (etwa bei bei Mühl). Die Kritik (Ivanceanu/Schweikhardt) benützt hier - sicherlich selbst kritiko-paptistisch und reduzierend einseitig - Begriffe wie Cäsaro-Papismus für Künstler wie Duchamps, Beuys und De Christo.
Eine Kritik religiöser Elemente im Duktus künstlerischer Genies ist selbst nicht frei von Gebundenheiten an eigene "ideologische" Begrenzung. Grundfragen bleiben:
Wenn es eine göttliche Essentialität gibt, ergeben sich für Kunst und deren Kritik daraus inhaltliche Konsequenzen (vgl.: den Aufsatz Peter Paul Sarnigs: "Menschliches und digitalisiertes Bewußtsein. Das Unendliche und die Grenze".
Gibt es göttliche Essentialität, ergibt sich evolutionslogisch die Frage, in welchem Ausmaß und mit welchen inhaltlichen Folgerungen oder auch Mängeln und Irrtümern haben bisherige Religions- oder Philosophiesysteme das Verhältnis der Welt zu Gott erkannt, geregelt und welche Wirkungen hatte dies auf die Tätigkeit der Kunstgenies? Die Kritik religiöser Tendenzen der Kunstgenies hat sich dieser Frage zu stellen. Wenn man, wie die Gruppe Or-Om, davon ausgeht, dass die bisherigen Religionssysteme erst Vorstufen eines universellen Religionssystems darstellen und einzeln und in der Relation zueinander Mängel und Irrtümer aufweisen (vgl.: http://or-om.org/Weltsystem.htm ), dann ergibt sich hieraus eine evolutive Perspektive zur Beurteilung aller Ansätze bisheriger und kommender Kunstgenies. Im weiteren hat dies evolutive Aspekte der Kunstkritik zur Folge. Auch Kunstkritik unterliegt somit progressiven Perspektiven und ist heute oft noch im Dornengestrüpp der Dialektik zwischen aggressiven Ablehnung aufklärerisch überholter religiöser Aspekte in den Kunsttheorien und einer selbst unangemessenen und mangelhaften (ideologisierten) oft nihilistischen Erkennntnistheorie zur Beurteilung der Kunstgenies verstrickt. Dies gilt natürlich auch für Künstlergenies, die sich als antireligiös, reaktiv-negativ bis nihilistisch gegen Mängel bestehender Religiosität verhalten. Die Gefahr, in diesem Gewirr das Kind mit dem Bade auszuschütten, führt selbst wiederum zu inhumanen, evolutiv mangelhaften Ergebnissen.
c) Der ironisch Postmoderne
Das postmoderne Prinzip (vgl: den Aufsatz Hans Greimers: "Was kann nach der Postmoderne kommen" ) erzeugt den Künstlertyp einer multiplen, ausgefächerten und ausgefransten Identität, die sich selbst als neue, genialisch aufgeklärte, schwebend-relativierende Persönlichkeit mit lockeren und ironischen Identitätsstrategien begreift.
Die Gruppe Or-Om © (non profit Organisation) ist in virtueller Raumzeit – also unabhängig von der historischen Entwicklung der betroffenen Gesellschaften in Europa und den übrigen Kontinenten und ungebunden von den Ausprägungen des etablierten Kunst- und Wissenschaftsbetriebes - als virtuelles Aktionsfeld tätig. Die einzelnen Persönlichkeiten können daher an verschiedenen Punkten der üblichen Raumzeitentwicklung auftreten, sie wirken zeitübergreifend und zeitunabhängig und sind nur insoweit an die historischen Realitäten der jeweilige Epochen gebunden, als sie auf deren Begrenzungen, Einseitigkeiten und evolutionären Mängel Bezug nehmen, um eine Weiterbildung von Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft anzuregen. Grundsätzlich ist daher die Zahl der Mitglieder der Gruppe unbegrenzt.
Die Gruppe erstellt Beiträge zur Evolution von Kunst, Erkenntnistheorie, Mathematik und Logik sowie Sozialformationen.
Die Gruppe ist eine strikte non profit Organisation, ihre Beiträge unterliegen keinem Copyright (Nã)und können von jedem/r kostenlos benützt werden. Ihre Tätigkeit kann keinem/er sozial etablierten oder in ökonomische Prozesse des Kunstmarktes involvierten/er KünstlerIn zugeordnet werden. Die Mechanismen des Kunstmarktes sind nicht wirksam.
Welche Veränderung erfahren die Geniebegriffe?
Für die 3 Genietypen der Postmoderne ergeben sich folgende Änderungen:
a) Der extrem Einmalige
Die kompromisslose Subjektivität wird durch universalistisch integrierte und gesättigte Individualität in der Einheit wissenschaftlich erschlossener Prinzipien göttlicher Rationalität ersetzt. Durch diesen Schritt werden der Subjektivität bisher unerschlossene Bereiche des Metaphysischen, der Spiritualität und Materialität eröffnet, wodurch jedoch die Kunsttätigkeit in ihren formalen und inhaltlichen Möglichkeiten keineswegs beschränkt wird. Alle Subjektivitäten sind aber auch unbegrenzt aufeinander abstimmbar wie in einer Symphonie mit unendlichem einheitlichen Schlüssel für alle Instrumente.
Bei der Gruppe Or-Omã tritt daher an die Stelle subjektiv dargestellter Genialität strikte Virtualität. Interviews werden daher nur in verdeckter Form gegeben.
b) Der "Cäsaro-Paptist"
Das fortwährende Erfordernis der Schaffung neuer Kunstreligionen, natürlich mit Bezügen zu anderen geistigen Strömungen (Theosophie Rudolf Steiners und H.P.Blavatskys, antike Mysterien, germanische oder kabhallistische Esoterik usw.) wird durch die Integration aller bisherigen Religions- und Kunstreligionsbegriffe im universalistischen progressiven Religionsbegriff überwunden (vgl.: http://or-om.org/Weltsystem.htm im Kapitel 'Allbegriff der Religion). Der Künstler schafft keine neuen Religionen, ist aber auch nicht Diener eines etablierten Religionssystems, sondern freier Mitarbeiter in einem universellen Religionssystem, das in seiner evolutiven Neuartigkeit alle bestehenden Systeme überschreitet. Im Rahmen dieses neuen systems sind auch alle bisherigen Kunstgenies und ihre metaphysischen oder religiösen Bezugssysteme (z.B. antikes Griechenland, Mittelalter, Renaissance, Romantik, Aufklärung, moderne religiös orientierte Kunstgenies wie Klee, Beuys, Kandinsky, Mondrian usw.) neu als teilirrige Vorstufen zu beurteilen.
c) Der ironisch Postmoderne